Peter Altmaier ist ehemaliger deutscher Bundesminister und Parlamentarier. Er spricht am Finance Forum Liechtenstein darüber, welche Folgen die aktuelle geopolitische Zukunft haben wird.
Interview: Patrick Stahl
Herr Altmaier, die Ereignisse in der Ukraine überschlagen sich. Welche Auswirkungen hat der Krieg in der Ukraine für die geopolitische Lage?
Auch wenn der Ausgang des Krieges noch ungewiss ist, er wird weltweit zu einer Neubewertung der geopolitischen Lage führen. Militärbudgets werden in vielen Ländern erhöht werden, steigende Rüstungsausgaben werden der Industrie zu Gute kommen. Zugleich wird die Notwendigkeit finanzieller Priorisierung und inflationsdämpfender Massnahmen verstärkt. NATO und EU werden gestärkt aus dieser Krise hervorgehen, zugleich besteht das Risiko neuer Blockbildungen als Reaktion. Das Wachstum der Weltwirtschaft, vor allem aber der europäischen Wirtschaft wird etwas geringer ausfallen, das hängt aber auch mit der Störung wichtiger Lieferketten zusammen.
Welche Lehren sollte die Politik aus diesem Konflikt ziehen?
Weder die Globalisierung durch internationale Verflechtung noch der vermehrte Abschluss von Handelsabkommen waren falsch. Es darf auch künftig keinen Rückfall in die Zeiten des Protektionismus und Isolationismus geben. Wir werden aber stärker darauf achten müssen, Lieferketten und Lieferbeziehungen so zu diversifizieren, dass sie resilienter, das heisst weniger störanfällig werden. Und dass man relativ schnell ausweichen kann, wenn dennoch etwas Unvorhergesehenes geschieht. Es ist gut, dass sich inzwischen in Brüssel und in den meisten EU-Ländern die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass wir deshalb auch bei uns eine Industriepolitik in enger Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und Staat benötigen. Ausserdem müssen alle sich fragen, ob sie genügend Aufmerksamkeit auf ihre innere und äussere Sicherheit richten. Das wird ein wichtiges Standortkriterium der Zukunft sein. Ebenso wie Nachhaltigkeit und Wettbewerbsfähigkeit.
In der Auseinandersetzung zwischen den USA und China droht Europa immer stärker ins Abseits zu geraten. Wie sollte sich Europa auf globaler Ebene positionieren?
Europa hat nur eine Chance, wenn es einig ist und ausreichend in Innovation und Zukunfts- bzw. Schlüsselbranchen investiert. Dabei wird die EU auf Dauer nur reüssieren, wenn sie auch mit Staaten, die gleichgesinnt sind und ähnliche Interessen haben, vom EWR über Grossbritannien und die Schweiz bis hin zu den Beitrittskandidaten des Balkans, gemeinsam handelt. Wir Europäer haben ein vitales Interesse, dass es nicht zu einem dauerhaften Handelskrieg zwischen China und den USA kommt, wo Europa zwischen viele Stühle geraten würde. Das würde am Ende Putin und anderen autoritären Regimen in die Hände spielen.
Wie wichtig ist ein Zusammenrücken, damit Europa mehr globalen Einfluss gewinnt?
Europa kann seine Stärke nur ausspielen, wenn es sie bündelt. Das bedeutet aber nicht Leadership durch grosse Länder zu Lasten der kleineren, sondern muss auf der Basis gerechtfertigter Interessen geschehen. Nur so können echte Kompromisse gefunden werden, die uns am Ende stärker und nicht zerstritten machen.
Sie haben in Ihrer Amtszeit als Wirtschaftsminister stark dafür plädiert, dass Europa sich in Schlüsselindustrien unabhängiger von globalen Lieferketten macht. Warum?
Ich habe im Februar 2019, als ich den Entwurf meiner Industriestrategie vorlegte, ein mittleres politisches Beben und viel Kritik ausgelöst. Aber in Wirklichkeit haben Länder wie die USA, Japan, Korea oder China schon immer Industriepolitik betrieben, in den meisten Fällen übrigens klug und mit herausragendem Erfolg. In der Corona-Pandemie 2020 habe ich dann während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr den Begriff der technologischen Souveränität geprägt. Da ging es um Lieferketten, deren weltweite Störung während der Pandemie eine grosse Rezession ausgelöst hat, aber auch um technologische Fähigkeiten bei der Batteriezellen- und Chip-Produktion sowie um den Erhalt von Stahl- und Chemieindustrie sowie um ausreichende Investitionen in den Bereichen Digitalisierung und Biotechnologie. Europa wird seinen Lebensstandard mit einem hohen Mass an sozialer Sicherheit, Bildung und Umweltschutz nur halten können, wenn wir Industrieland, Innovationsland, Finanzplatz und Dienstleistungsplatz gleichermassen dauerhaft bleiben.
Auch in der Finanzbranche droht Europa den Anschluss an global tätige Institute aus den USA und China zu verlieren. Wie können global relevante Finanzinstitute in Europa aufgebaut werden?
Nach dem Austritt Grossbritanniens aus der EU stellt sich diese Frage neu und mit grosser Dringlichkeit. Ich denke, wir können sie nur erfolgreich lösen, wenn diejenigen Länder, die über eine herausragende Kompetenz in diesem Bereich verfügen, wie Luxemburg, die Schweiz und eben auch Liechtenstein, dabei eng eingebunden sind und zusammenarbeiten. Die grossen Länder müssen sich darüber im Klaren sein, dass es sehr viel leichter sein wird, zunächst vorhandene Kompetenzzentren zu stärken. Das kann dann allen zu Gute kommen. Es ist übrigens meine Überzeugung seit Langem, dass wir das europäische Werte-, Wirtschafts- und Sozialmodell stärken müssen, weil es auch unsere wirtschaftliche Bedeutung stärken wird. Internationale Finanzparadiese werden in den nächsten Jahrzehnten kontinuierlich an Bedeutung verlieren: Das ist für unsere Länder auch eine Chance, aufzuholen und Investoren, die ihre Gelder derzeit noch ausserhalb Europas geparkt haben, nach Europa zurückzuholen.
Sie haben Liechtenstein mehrfach besucht. Wie beurteilen Sie die internationale Reputation des Finanzplatzes heute, nachdem der Steuerskandal 2008 das Verhältnis zwischen Deutschland und Liechtenstein beeinträchtigt hatte?
Mir war die Zusammenarbeit mit den deutschsprachigen Umweltministern und später auch Wirtschaftsministern unserer Länder immer ein wichtiges Anliegen. Dabei hatte ich mit meinen Liechtensteinischen Kollegen, zuletzt mit dem heutigen Regierungschef Daniel Risch ein gutes Arbeits- und Vertrauensverhältnis verbunden, ungeachtet mancher Irritationen, die es in der Vergangenheit gegeben hat. Liechtenstein stand insbesondere um die Jahrtausendwende einige Male in der Kritik, aber mein Eindruck ist eindeutig der, dass aus Fehlern der Vergangenheit gelernt wurde. Liechtenstein ist ein sehr kapitalkräftiger Finanzplatz geblieben, sogar noch stärker geworden, und gleichzeitig ist das politische Vertrauen zwischen unseren Regierungen wieder grösser geworden. Gerade angesichts der geopolitischen Unsicherheiten, über die wir eingangs gesprochen haben, wird der Finanzplatz Liechtenstein auch künftig für viele Anleger attraktiv sein. Transparenter als noch vor Jahren, in Übereinstimmung mit den internationalen Regeln, im Konzert mit den anderen Ländern der EU und des EWR und dennoch erkennbar mit all seinen Stärken und seinem Know-how gerade in diesem Bereich.