Blog

Die Finanzindustrie kann die Chancen nutzen oder Neueinsteigern überlassen

Der Futurologe Max Thinius sieht enormes Potenzial für die Finanzindustrie im Allgemeinen und den Finanzplatz Liechtenstein im Speziellen. Voraussetzung dafür sei, dass die Finanzdienstleister die Chancen der Digitalisierung nutzen und neue Services und Dienstleistungen entwickeln, sei dies im Bereich der Datenwirtschaft oder mit Kryptowährungen.

 

Interview: Patrick Stahl

Herr Thinius, Sie sind kein Zukunftsforscher, sondern ein Futurologe. Worin liegt der Unterschied?

Zukunftsforscher kommen aus der wissenschaftlichen Perspektive. Sie nutzen Studien, Zahlen, Daten und Fakten und berechnen die Zukunft. Es geht darum Wahrscheinlichkeiten vorher zu sagen: was wird am ehesten eintreffen. Futurologen kommen aus der Praxis des gelebten Alltags. Sie schauen welche Technologien, vor allem aber welche sinnvollen Strukturen und Lösungen sich bereits in der Gesellschaft bilden. Und wie das eine positive Wirtschafts- und Lebensqualität beeinflussen kann. Dabei geht es um Möglichkeiten. Nur etwa 30 Prozent der Zukunft sind gegeben. Den Rest haben wir selbst in der Hand.

Die Digitalisierung krempelt beständig unser Leben um. Wo stehen wir auf dieser Reise?

Rund 80 Prozent unseres Alltags werden sich ändern durch die Digitalisierung. Etwa 15% haben wir bereits erreicht. Dabei rechnen wir seit ungefähr 2010 mit dem Beginn des digitalen Zeitalters. Rund um das Jahr 2035 werden die grössten Teile der Digitalisierung abgeschlossen sein. Ein paar Bereiche früher, ein paar später. Wir nutzen die Potenziale der Technologie bisher nur in Ansätzen, da wir sie immer noch in industrielle Strukturen pressen. Das merken sie, wenn Sie acht Stunden Video-Meetings hintereinander gemacht haben. So sind übrigens auch die grossen sechs Unternehmen der Digitalwirtschaft noch nicht wirklich digitale Unternehmen, sondern Unternehmen von industrieller Struktur, die lediglich geschickt digitale Technologie nutzen. Würden es wirklich digitale Unternehmen sein, wären sie ganz anders aufgebaut und die Menschen ganz anders in den Arbeitsprozess integriert.

Welche Rolle könnte die Finanzindustrie in der digitalen Wirtschaftsstruktur spielen?

Die Finanzindustrie muss vor allem eins verstehen: Daten werden künftig eine immer wichtigere Rolle spielen. Stellen sie sich mal vor, unsere Daten würden uns gehören. Durch das Urheberrecht würde ich Geld bekommen von den Unternehmen, die meine Daten nutzen – sei dies Google, Facebook oder eine andere Plattform. Daten, die wir erzeugen, sind derzeit zwischen 1.000 bis 3.000 Euro pro Person wert. Einige Quellen gehen sogar noch höher.

Was heisst dies für die Finanzindustrie?

Die Finanzindustrie kann diese Chance nutzen und neue Dienstleistungen anbieten. Zum Beispiel Daten von Menschen oder Unternehmen verwalten, anlegen und monetarisieren. Finanzdienstleister können aber auch sogenannte Smart Contracts auf Basis der Blockchain-Technologie in ihr Portfolio integrieren und neue Dienstleistungen schaffen, die ein nahezu unendliches Potenzial bieten. Klassische Finanzdienstleistungen wie der Transfer von Geld werden dabei zunehmend digital automatisiert und verlieren an Bedeutung für die Wertschöpfung. Wichtig beim Umgang mit der Datenwirtschaft sind Struktur und Sicherheit des gesamten Systems inklusive der Daten. Die Finanzwirtschaft hat einen grossartigen Ruf. Sie kann sich diesem neuen Thema annehmen oder es Neueinsteigern überlassen.

Welche Gefahr geht von Technologiekonzernen wie Facebook & Co. aus?

Wenn sich die Finanzinstitute nicht mit den neuen Möglichkeiten auseinander setzen und entsprechend Geschäftsmodelle entwickeln, dann werden sie auf der Strecke bleiben. Das kann man leider nicht schönreden. Die bestehenden Finanzdienstleister müssen offen für Veränderungen sein und ihre Erfahrung und ihre Kundenbeziehungen nutzen, um die neuen Möglichkeiten auszuschöpfen. Voraussetzung ist, dass ein grundlegendes Umdenken stattfindet – weg von Aussagen wie “So haben wir das schon immer gemacht”. Dann werden die Finanzdienstleister Konkurrenten wie Facebook & Co mittelfristig das Wasser abgraben.

Die Digitalisierung führt dazu, dass nationale Grenzen und Strukturen aufgehoben werden. Wie sollte sich Europa in diesem veränderten Umfeld positionieren, um wirtschaftlich stark zu bleiben?

Zunächst einmal müssen wir das Betriebssystem Europa dringend erneuern. Das wurde für die gute alte industrielle Umgebung geschaffen und dafür war es auch sinnvoll – inklusive des Euro. Im digitalen Zeitalter haben wir vollkommen neue Möglichkeiten. Wenn Europa diese nicht nutzt, tun es andere. Dann entstehen vielleicht vollkommen neue Gebilde. Die Blockchain-Technologie bietet spannende Möglichkeiten – gerade auch in der Geldpolitik. Kryptowährungen wie Stablecoins können heute an tausenden oder hunderttausenden von Parametern einer Volkswirtschaft festgemacht werden. Damit ist ein Stablecoin viel stabiler und in echten Fakten erfassbar als eine FIAT-Währung, die nur auf Vertrauen beruht. Gleichfalls kann über digitales Geld eine regionale Struktur unterstützt werden, wir hätten viel mehr finanzpolitische Instrumente um ein faires und ausgeglichenes Europa zu schaffen.

Wo sehen Sie das Potenzial für einen relativ kleinen Finanzplatz wie Liechtenstein?

Liechtenstein kann sehr schnell sein. Es kann wie Tesla die neuen Möglichkeiten schnell ausprobieren sowie aufbauen und dann weltweit zur Verfügung stellen. Es ist heute egal wo ein funktionierender Finanzplatz sitzt. Hauptsache ist, der Finanzplatz bietet Möglichkeiten, denen ein Bedürfnis gegenübersteht. Natürlich wäre es interessant zu überlegen, wie eine Krypto-Börse für konventionelle Titel funktioniert, also nicht für Kryptowährungen, sondern für konventionelle Finanztitel. Man könnte auch überlegen, wie man aus analogen neu digitale Aktien macht und was das für Unternehmen heisst. Die Möglichkeiten sind enorm.

 Was dürfen die Gäste bei Ihrem Auftritt am Finance Forum Liechtenstein erwarten?

Eine Mischung zwischen ungläubigem Staunen, Kopfschütteln und schliesslich die Erkenntnis, dass die Potenziale für den Finanzplatz Liechtenstein riesig sind. Wenn man nur anders denkt, sich auf Möglichkeiten statt Wahrscheinlichkeiten stützt und Neues ausprobiert. Die Zukunft kommt nicht – sie wird gestaltet. Und ich halte Liechtenstein für fähig hier ein grosses Stück mitzugestalten.