Mirjam Staub-Bisang ist Expertin für Nachhaltigkeit und Länderchefin von BlackRock Schweiz. Am Finance Forum Liechtenstein erklärt sie, wie sich das aktuell volatile Marktumfeld auf die Nachhaltigkeitsthematik auswirkt.
Frau Staub-Bisang, die volatilen Finanzmärkte bereiten institutionellen und privaten Investoren grosse Sorgen. Wie geht der grösste Vermögensverwalter der Welt damit um?
Im aktuellen Umfeld ist ein holistischer wie auch langfristiger Blickwinkel wichtiger denn je. Angesichts der aktuellen Kombination von Inflations-, Zins- und Konjunktursorgen sind sowohl Aktien- als auch die Anleihenkurse volatil und haben sich nach der starken Korrektur im Frühjahr noch nicht erholt. In der aktuellen Marktlage können wir zusätzlich beobachten, dass dies ungewöhnliche Herausforderungen auch für Investoren sind. Klassische «sichere Häfen» wie Staatsanleihen bieten aktuell nicht den gewohnten Schutz, wofür ich allgemein drei ausschlaggebende Faktoren sehe: Erstens, der Gipfel der Inflation ist wohl noch nicht erreicht, weder in den USA noch in Europa. Zweitens stemmen sich die Zentralbanken vehement gegen Inflationsrisiken, und zwar selbst um den Preis einer wirtschaftlichen Abschwächung. Die Schweizerische Nationalbank (SNB) beispielsweise überraschte im Juni viele mit einem Zinsschritt um 50 Basispunkte – die erste Erhöhung seit 15 Jahren. Und drittens werden diese Entwicklungen nicht spurlos an der Realwirtschaft vorüberziehen. So scheint die Fed gewillt, den Leitzins noch in diesem Jahr auf 3,4 % anzuheben – ein Niveau, das die US-Konjunktur bremsen dürfte. Ich glaube aber, dass die Fed letztendlich ihren Kurs ändern wird, jedoch nicht, bevor sich das Wachstum deutlich verlangsamt hat. Diese drei Punkte zeigen, in welchem Dilemma sich die Zentralbanken aktuell befinden, also der Zielkonflikt zwischen angebotsbedingter Inflation und Wachstum. Ein zu starkes Anheben der Zinssätze birgt die Gefahr einer Rezession, während ein zu behutsames Vorgehen die Gefahr sich verselbstständigender Inflationserwartungen mit sich bringt.
Sie sind seit über 20 Jahren in der Finanzwelt tätig. Wie nehmen Sie persönlich die jüngere Entwicklung an den Finanzmärkten wahr?
20 Jahre ist eine lange Zeit, da haben Sie recht. In dieser Zeit hat sich nicht nur die Finanzwelt, sondern auch die Realwirtschaft wie auch die Gesellschaft fundamental verändert. Insbesondere jüngste geopolitische Entwicklungen bereiten mir Sorgen; damit meine ich den Russland-Ukraine-Konflikt. Aktuell sind wir Zeugen einer unfassbaren humanitären Katastrophe – Krieg in Europa war für viele von uns undenkbar, und nun vergeht kaum ein Tag, an dem wir uns nicht mit dieser neuen Realität auseinandersetzen müssen. Meine Gedanken sind dabei in erster Linie bei den Menschen, die direkt oder indirekt betroffen sind. Auch wenn er heute weniger in den Nachrichten ist, dürfen wir nicht vergessen, dass der Krieg weiterhin andauert. Ich gehe davon aus, dass der Konflikt langfristige humanitäre und geopolitische Folgen haben wird. Börsentechnisch relevant sind dabei vor allem die hohen Energiepreise und die erwähnte angebotsbedingte Inflation. Dies wird besonders in Europa deutlich. Schlägt die Teuerung als Folge auf die Unternehmensgewinne durch, kann nicht mit einer schnellen Erholung gerechnet werden. Als langfristige Anleger müssen wir dennoch einen kühlen Kopf bewahren und unsere Sicht auf die Weltwirtschaft und die Märkte nicht zu stark durch die unfassbaren Ereignisse ablenken lassen. Das gilt insbesondere für den Weg zu einer klimaneutralen Wirtschaft.
Nachhaltigkeit ist Ihr Spezialgebiet. Sind die aktuellen Turbulenzen eher ein Rückschlag oder ein Katalysator?
Als Reaktion auf den durch den Krieg in der Ukraine verursachten Energieschock suchen viele Länder nach neuen Energiequellen. Daher dürften wir einen kurzfristigen Anstieg des Verbrauchs fossiler Energieträger sehen. Nichtsdestotrotz glaube ich, dass die geopolitische Krise auch zur Folge haben wird, dass Investitionen in erneuerbare Energien forciert werden, um Energieunabhängigkeit von Russland zu erlangen, aber auch um die Netto-Null-Commitments zu erreichen. Kurzfristig dürfte der CO₂-Ausstoss also wieder steigen, mittelfristig bis langfristig aber wird der Fokus auf CO₂-ärmeren Energiequellen liegen. Durch den Ukraine-Krieg ist eine gestiegene Nachfrage nach den Erneuerbaren zu verzeichnen, wobei die hohen Energiepreise die Produktion erneuerbarer Energien relativ gesehen wirtschaftlicher machen. Da weitestgehend davon ausgegangen wird, dass diese Krise leider anhält, wird schnell und mit viel Nachdruck umgerüstet. Das hilft womöglich auch, einige Stufen im Transformationsprozess zu überspringen. Schauen wir auf die Inflations- und Zinsentwicklungen, glaube ich nicht, dass diese für nachhaltige Anlagen langfristig nachteilig sein werden. Insbesondere institutionelle Investoren investieren risikoorientiert und wollen Nachhaltigkeitsrisiken und insbesondere Klimarisiken in ihren Portfolios reduzieren. Seitens institutioneller Investoren beobachten wir eine anhaltend hohe Nachfrage nach Infrastrukturanlagen und diesbezüglich auch nach Investitionen in erneuerbare Energieinfrastruktur.
Woran liegt es, dass man mit nachhaltigen Anlagen mehr verdient?
So pauschal kann man das nicht sagen. Zahlen aus 2021 zeigen aber, auch als die Energiepreise stark anstiegen, haben nachhaltige Anlagen im Schnitt besser rentiert – ebenso im Pandemiejahr 2020. Auch mit Blick in die Zukunft glaube ich, dass langfristig nachhaltig ausgerichtete Unternehmen besser performen, ihre Produkte werden von Kunden bevorzugt, sowohl von Endkonsumenten wie auch von Geschäftskunden. Diese bevorzugen wiederum Zulieferer, die sich Nachhaltigkeitszielen verpflichtet haben.
Nehmen die Schweizer und Liechtensteiner Institute Ihrer Ansicht nach das Thema genügend ernst oder wird allzu oft aus Marketinggründen Greenwashing betrieben?
Die meistgenannte Hürde für institutionelle Investoren in nachhaltige Anlagen zu investieren, ist – wenig überraschend – die mangelhafte Qualität von ESG-Daten. In den letzten Jahren wurden aber bedeutende Fortschritte hinsichtlich ESG-Datenqualität und ESG-Standards gemacht. Allgemein müssen Regierungen den Weg weisen und marktübergreifend eine einheitliche Taxonomie für Nachhaltigkeit, Regulierung und Offenlegung bereitstellen. Das hat zum Teil bereits stattgefunden. Auf europäischer Ebene beispielsweise wurden mit der Regulierung im Rahmen des 2018 lancierten Sustainable Finance Action Plan der EU enorme Fortschritte erzielt, und so gibt es heute eine sogenannte Taxonomie, die qualifiziert, welche Wirtschaftstätigkeiten und Anlagevehikel nachhaltig sind und welche nicht. Hinsichtlich Greenwashing glaube ich, wer allein aus Marketinggründen auf Nachhaltigkeit setzt, wird keinen Erfolg haben. Eine solche Strategie wird durchschaut. Wir engagieren uns aktiv im Kampf gegen Greenwashing. Für uns sind Umwelt- und Klimarisiken Anlagerisiken, daher haben wir Nachhaltigkeit zum Investmentstandard erklärt.
Wie gross sind die Herausforderungen für die Finanzindustrie, wenn sie für eine junge, digital affine und nachhaltig denkende Zielgruppe attraktiv bleiben will?
Während der Pandemie haben wir erlebt, wie grosse Teile der Bevölkerung geradezu zwangsdigitalisiert wurden. Menschen, die noch skeptisch waren, haben erlebt, welche Vorteile der digitale Umgang in der Finanzindustrie hat. Das ist ein irreversibler Schritt. Auch künftig wird die Digitalisierung stärker voranschreiten, ebenso wie der erwähnte Trend zu Nachhaltigkeit – davon bin ich überzeugt. Hinzu kommt, dass in kommenden Jahrzehnten die Stimmungslage der Millennials nicht nur ihre Konsum- und Karriereentscheidungen, sondern auch ihre Anlageentscheidungen beeinflussen wird. Gleichzeitig vollzieht sich der grösste Vermögenstransfer der Geschichte: 23 Billionen Schweizer Franken werden von den Babyboomern auf die Generation der Millennials übergehen. Damit werden Umwelt-, Sozial- und Governance-Themen immer wichtiger für Unternehmensbewertungen und Anlageentscheidungen.
Hat dieses Umdenken bereits stattgefunden?
Hinsichtlich Nachhaltigkeit ja, wenn auch nicht überall. Vor zehn Jahren waren nachhaltige Anlagen vor allem ethisch oder ideologisch motiviert. Heute sind es institutionelle Investoren mit ihrem klaren Fokus auf eine langfristig risikoadjustierte Anlageperformance, die sich für nachhaltige Anlagestrategien interessieren. Diese Betrachtungsweise hat sich über die letzten Jahre weiter etabliert, was wiederum eine fundamentale Umschichtung von Kapital in Gang setzte. Weltweit beobachten wir ein enorm starkes Wachstum nachhaltiger Anlagen, das per Ende letzten Jahres zu rund 3,6 Billionen Schweizer Franken investiertem Kapital in dediziert nachhaltigen Anlagestrategien geführt hat.
Wie nehmen Sie den Finanzplatz Liechtenstein wahr?
Ich nehme den Finanzplatz als innovativ, flexibel, dynamisch und offen wahr. Zwar kleiner als der Schweizer Finanzplatz, aber wesentlich stärker mit Europa verbunden. Dazu möchte ich ergänzen, dass ich persönlich immer gerne in Liechtenstein bin.
BlackRock ist bislang nicht in Liechtenstein vertreten. Wie könnte sich dies ändern?
Das stimmt so nicht ganz. Wir haben zwar kein physisches Büro in Lichtenstein, pflegen aber einen ständigen Austausch mit vielen Kunden und Partnern in Liechtenstein. Ich erinnere mich beispielsweise auch daran, dass meine Kollegen bei BlackRock neulich an der Uni Liechtenstein zu BlackRocks Nachhaltigkeitsstrategie referiert haben. Und natürlich freue ich mich auf spannende Gespräche am Finance Forum Liechtenstein 2022.